Schulleiter a.D. Dumonts Tagebuch

Dienstag, 29. Juni 2021


Tag 717 der Baustelle

Der Graben für die Anschlüsse an den Neubau ist über die gesamte Breite des Hofes jetzt geöffnet, das heißt, zwischen dem Bestandsbau an der Mensa und dem Neubau klafft jetzt eine an den Wassergraben einer Burg erinnernde „Schlucht“. An der Kante sind zwei etwa vier Meter hohe Kegelberge mit dem Aushub entstanden. Die Baustelle ist daher wieder gut befüllt, die Elektriker müssen ihre Autos irgendwo außerhalb parken. Wohl dem, der da rechtzeitig zum Unterricht da ist, sonst ist der Parkplatz weg. Ein schönes Detail fiel mir auf: An der fast senkrechten Wand des Grabens war ein kleines Stück eingebrochen, so dass eine kleine Bruchstelle entstand. Einer der Arbeiter hatte seine Thermosflasche dort “hineingebohrt“. Mitten in der martialischen Baumaschinenlandschaft ein kleiner, fremd, aber heimelig wirkender Gegenstand der Zivilisation.

Aber, keine Zeit für sentimentale Details und ihre Wirkung, ich wurde in Wachenheim gebraucht. Ist es wirklich schon wieder soweit, dass der Europawettbewerb abgeschlossen ist und die Preisträger feststehen? Den letztjährigen Gewinn eines Bundespreises habe ich doch noch als Gegenwart oder zumindest noch als jüngste Vergangenheit parat. Bisher wurden die Landessieger in einer recht großen Veranstaltung irgendwo im Lande gewürdigt, Ingelheim und Bad Bergzabern habe ich da in Erinnerung. Corona hat auch dies gecancelt. Also wollten wir die erfolgreichen Gewinner auf Schul-, Landes- und Bundesebene wenigstens in einer kleineren Schulveranstaltung würdigen. Neben einem eigens für diesen Zweck erstellten Video der Ministerin, welches wir gerne in den Ablauf aufnahmen, sollte „live“ der Schulleiter ein paar Worte an die Kids richten.

Ich wollte mit meiner kurzen Rede meinen eigenen Standpunkt zu Europa verdeutlichen und wollte aufzeigen, dass da etwas als selbstverständlich hingenommen wird, was aber hart erkämpft wurde. Europakritische Stimmen kommen derzeit mit seltsamen Tendenzen bis hin zum Brexit, zudem finden Austrittsforderungen den Weg in Wahlprogramme. Da hinein wollte ich meine persönliche Begeisterung für die europäische Idee zumindest nennen, wenn mir auch ein Einpflanzen lieber gewesen wäre. Ich erzählte von vier Anekdoten aus meinem eigenen Leben, die für die Schülerinnen und Schüler vermutlich als „historisch“ empfunden wurden, wobei aber deutlich wird, dass die Veränderungen innerhalb einer Generation bewirkt wurden. Zunächst gehört es zu unseren Familienanekdoten, dass mein Vater nach dem zweiten Weltkrieg mit einem Pfadfinderfreund durch die Vogesen wanderte und zweimal vermöbelt wurde. Nicht, weil er etwas angestellt hatte, sondern nur, weil er eben ein boche war. Das allein genügte. Die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland war seinerzeit noch sehr lebendig und reichte historisch weit zurück, das Schimpfwort für Deutsche war noch in aller Munde, die feindliche Geisteshaltung mitnichten durch einen Vertrag verwässert. Dann erzählte ich von meiner eigenen Einreise vor etwa vierzig Jahren nach Polen, wozu ein zeitaufwändiges Visum beantragt werden musste, welches im Reisepass (!) für einen begrenzten Zeitraum eingestempelt wurde. Zudem hatten wir lange Schlangen und intensive Zollkontrollen an der Grenze zu überstehen. Für einen Urlaub in Italien mussten wir Geld in die seltsam hohen Lira-Scheine umtauschen, die uns mehr an Spielgeld erinnerten als an eine europäische Währung. Und: Seit über siebzig Jahren leben wir in Frieden und Freiheit -  den letzten vier Generationen meiner Familie war ein solches Leben nicht vergönnt. Allein diese vier Beispiele belegen in meinen Augen die Wichtigkeit und die Erfolge des oft fragil erlebten und kritisierten Gebildes Europa, ganz gleich, ob es sich um Toleranz und Anerkennung, ein Europa ohne Grenzen mit Währungsunion oder um ein friedvolles, den Gedanken der individuellen Freiheit verpflichtetes Gemeinwesen handelt, I love Europa, so stand es auf einem Aufkleber, den ich mir vorne zur Verdeutlichung anheftete. Dabei ist es ganz wichtig, dass junge Menschen mit diesem Bewusstsein in ein vereintes Europa hineinwachsen und es weiterentwickeln. Der Europawettbewerb setzt hintergründig genau dort an, um sich mit Europa nicht politisch trocken als Ideengebilde zu befassen, sondern kreativ und mit Spaß. Und wenn es schon Gewinner auf Schul- und Landesebene und Nominierungen für die Bundesebene gibt, gehört eine Würdigung dazu. Wie wichtig dies dann schließlich war, konnte ich den Gesichtern ansehen, wenn sie ihre Urkunden, Medaillen und Preise in Empfang genommen hatten. Zwei herrliche Stunden also, die ich da genießen durfte.


Die bisher erschienen Bücher sind erhältlich im: www.littera-verlag.de/Bücher
(Das Autorenhonorar kommt dem Förderverein der IGS zu Gute.)

Tagebuch_6 Soeben erschienen
„Schulleiters Tagebuch 6,
Die Baustelle und Corona“
2021


Letztens 2 „Letztens 2 - ,
Erlebtes rund um die Schule“
2020

Tagebuch 5
„Schulleiters Tagebuch 5,
Warten auf den Bau“
2017 – 2019

Letztens 1 „Letztens –
Schulleiters Tagebuch ergänzende Kolumnen“

tagebuch_4_ "Schulleiters Tagebuch 4,
Der Weg zum Abitur
2014 - 2017"

Tagebuch 1-3"Deshalb IGS -
Positionen und Hintergründe zur Integrierten Gesamtschule mit Beiträgen aus Schulleiters Tagebuch 1 bis 3"

Tagebuch 3 "Schulleiters Tagebuch 3,
Die ersten Abschlüsse,
2012 - 2014"

Tagebuch 2 "Schulleiters Tagebuch 2,
Der Start in Deidesheim,
2010 - 2012"

Tagebuch 1 "Schulleiters Tagebuch,
Der Start in Wachenheim,
2010 - 2012"